Coming-of-Age, das Gefühl von Heimat und Fremde sowie die Unmöglichkeit seine Vergangenheit abzustreifen auch wenn sie Ereignisse beinhaltet wie die Ermordung des Vaters und mehrere Aufenthalt in unterschiedlichen Konzentrations- beziehungsweise Vernichtungslagern der Nationalsozialisten. Das Anraten einer amerikanischen Verwandten das „was in Deutschland passiert ist“ wegzuwischen „wie mit einem Schwamm, wie die Kreide von einer Tafel“, weist sie entschieden zurück. Ihre Kindheit kann und will sie nicht vergessen, so Martin Hemmer, der in der aktuellen Produktion des Künstlerinnenkollektivs makemake neben drei weiteren SchauspielerInnen alternierend Ruth Klüger spricht. Man hat eben nur eine Kindheit auch wenn man diese zum Teil in Auschwitz verbrachte.

In ihrem 1992 erschienenen Bestseller „weiter leben“ reflektiert und deutet Ruth Klüger die Ereignisse von der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich über ihre Aufenthalte in Lagern wie Theresienstadt und Auschwitz bis hin zur Ausreise nach Amerika und den Anfängen ihres Lebens in der Fremde – und das nicht selten auf humorvolle Art und Weise ohne, dass die Shoa dabei jedoch an Schrecken einbüßen würde. Oftmals richtet sie dabei den Blick zudem aus einer betont weiblichen Sicht auf die Vorkommnisse. „Die Kriege gehören den Männern daher auch die Kriegserinnerungen“, zitiert Hemmer Klüger in der aktuellen Adaption ihres Buches für die Bühne.

Aus weiblicher Sicht und eines Kindes

Erst mit 60 Jahren tritt Ruth Klüger, die sich bis dahin als Literaturwissenschaftlerin einen Namen machen konnte, auch literarisch in Erscheinung. Auf die Frage, warum so spät, antwortete sie in einem Interview in der deutschen Zeitung „Die Zeit“ 2015: „In der ersten Zeit und viele Jahre nach dem Krieg haben sich vor allem Männer zu Wort gemeldet. Sie schienen diejenigen, die etwas zu sagen hatten. Ich bin mir da nicht wichtig genug vorgekommen, ich war damals ja noch ein Kind und hatte nur die Kinderperspektive.“ Nicht selten wird ihr später aufgrund ihrer jungen Jahre die Fähigkeit abgesprochen sich richtig zu erinnern. Weiter leben ist vor allem ein Buch über das Erinnern und die Frage nach der Erinnerung – eine Frage, die uns alle unser Leben lang betrifft. Zahlen und Fakten zum Holocaust sind heute hinlänglich bekannt, so die Ansicht der Autorin. Ungenauigkeiten wie sie beispielsweise oft in Filmen über den Holocaust vorkommen, sind der Autorin trotz allem ein Dorn im Auge. Dass auch Kinder die Ereignisse in vollem Bewusstsein, nicht mehr oder minder als Erwachsene, erlebt haben, daran wird im Buch wie auf der Bühne kein Zweifel gelassen.

Erstmals auf der Bühne

Der Wunsch ihre Lebensgeschichte auch für das Theater aufzuarbeiten, stammte von Klüger selbst. Über eine Bekannte der Autorin erreichte der Vorschlag das in Wien ansässige Künstlerinnenkollektiv, das mit der Adaption von Ágota Kristófs „Das große Heft (nominiert für den Nestroy-Theaterpreis als beste Off-Theaterproduktion 2020) in der Vergangenheit bereits Erfolge im Bereich der Literaturadaption für die Bühne verzeichnen konnte. Im Fall von „weiter leben“ hat das Team rund um Sara Ostertag, Kathrin Herm und Anita Buchart über 280 Seiten bühnengerecht aufgearbeitet. Weglassen wollte man wenig – eher komprimieren, so Buchart.
Das Ergebnis kann sich trotz coronabedingter Veränderung des Konzepts vom Stationentheater zur „begehbaren Videoinstallation für eine Person an vier unterschiedlichen Orten“ sehen lassen. Ausgerüstet mit einem Plan (den man gemeinsam mit dem Ticket im Theater erhält) macht man sich als BesucherIn auf, die Orte des Geschehens zu erkunden und erlebt dabei bei jeder Station eine Überraschung. Sei es ein zum Kino umfunktionierter LKW (das wunderbare Milieu-Kino von Max Kaufmann), ein Kellergewirr, durch das man sich seinen Weg bahnen muss, oder ein atmosphärisch in Szene gesetzter Veranstaltungsraum, der über eine gehörige Portion Patina verfügt – schon die Kulissen und das Bühnenbild sind einen Besuch wert. Da stört es auch nicht, dass man die SchauspielerInnen nur auf der Leinwand erleben darf. Aufgenommen wurden die Szenen passend vor Ort. Zum Finale geht es schließlich erneut ins Hamakom Theater, wo man allein im Saal nochmals hautnah an der Geschichte dran ist. Das 1898 gegründete Theater wurde 1938 geschlossen und 1941 „arisiert“. Nachdem die Besitzer es jahrelang an eine Lebensmittelkette vermieteten, konnte es ihm Jahr 2004 zum ersten Mal seit Jahren wieder als Theater genutzt werden. Klüger selbst hat die Premiere des Stückes leider nicht mehr erlebt. Sie verstarb fast 89-jährig am 6. Oktober 2020 in Irvine in Kalifornien.

weiter leben
nach Ruth Klüger
Eine begehbare Videoinstallation für eine Person an vier unterschiedlichen Orten
mit Alireza Daryanavard, Martin Hemmer, Anne Wiederhold, Emma Wiederhold
Treffpunkt: Hamakom Theater (Nestroyplatz 1, 1020 Wien)
Termine: 7. bis 20. Mai (täglich 13.30, 15.30 und 17.30 Uhr)
www.makemake.at/projekte/weiter-leben

Titelbild: Sujetfoto mit Emma Wiederhold © Apollonia Theresa Bitzan

Geschrieben von Sandra Schäfer